Abstandserlass - Hemmnis oder flexibles Werkzeug?
Ist der Abstandserlass NRW ein Überbleibsel vergangener Zeiten - hinderlich für die Ansiedlung moderner Unternehmen? Oder ist er ein flexibles Instrument, das durch seine Offenheit sogar Vorteile hat? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen des Paktes für Planungsbeschleunigung.
Dirk Pfeifferling, Geschäftsführer der Internationalen Technologie- und Service-Center Baesweiler GmbH, kennt den Erlass aus der täglichen Arbeit. Häufig hat er es mit Anfragen von Unternehmen zu tun, die sich im Raum Baesweiler ansiedeln möchten. Sobald es konkreter wird, muss Pfeifferling den Abstandserlass zur Hand nehmen. Das Problem: Dieser Erlass stammt aus dem Jahr 1972 und wurde zum letzten Mal 2007 aktualisiert. "Der Stand der heutigen Technik ist nicht berücksichtigt. Viele der geforderten Abstände sind überholt, weil moderne Anlagen deutlich weniger Emissionen verursachen", erläutert Pfeifferling.
Schnelle Ansiedlungen erschwert
Ein Beispiel ist die Biotechnologie. Sie taucht im Abstandserlass gar nicht auf – 2007 war sie noch kaum industriell verbreitet. "Am besten passt sie in die Klasse der Medikamentenhersteller. Doch das ist dieselbe Abstandsklasse wie für Steinbrüche, bei denen Sprengstoff verwendet wird", sagt Pfeifferling. Auch Speditionen seien ein weiteres Beispiel für fehlende Differenzierung: "Eine Spedition mit 150 Lkw ist eine ganz andere Hausnummer als eine mit zehn – trotzdem werden beide gleichbehandelt."
Die Folgen erlebt er häufig: "Ansiedlungen werden unnötig verzögert oder erschwert. Entwicklungsmöglichkeiten von Gewerbeflächen werden eingeschränkt, Nachverdichtungen behindert und der Flächendruck wächst weiter." Dazu kommen langwierige Abstimmungsverfahren mit Behörden und Unsicherheiten bei Bestandserweiterungen. "All das wirkt sich negativ auf Investitionsentscheidungen aus", warnt Pfeifferling.
"Der Erlass ist flexibel"
Eine andere Sicht hat Ralf Ohk von der Unteren Immissionsschutzbehörde im Rhein-Kreis Neuss. Er plädiert dafür, die Spielräume des Erlasses stärker zu nutzen. "Der Abstandserlass NRW 2007 ist derzeit das einzige gerichtlich anerkannte Instrument zur immissionsschutzrechtlichen Konfliktlösung im Bauleitplanverfahren. Über Festsetzungen im Bebauungsplan wird die Zulässigkeit, bzw. Unzulässigkeit von Anlagen und Betrieben geregelt", erklärt Ohk. "Aber der Erlass erlaubt Ausnahmen. Planer, Genehmigungsbehörden und Unternehmen können auf uns zukommen und prüfen lassen, ob eine andere Bewertung möglich ist."
So entstünden viele Einzelfalllösungen. Wenn ein Vorhaben technisch "atypisch" sei, könne es einer anderen Abstandsklasse zugeordnet werden. "Es ist ausdrücklich unsere Aufgabe, gemeinsam mit Wirtschaftsförderung, Bauaufsicht und Vorhabenträgern solche Fragen zu klären." Nach seiner Erfahrung bietet der Erlass damit hohe Flexibilität und Rechtssicherheit. Dennoch sieht auch Ohk die Notwendigkeit, den Anhang zu aktualisieren – wohl wissend, dass das dauern wird: "Die letzte Überarbeitung hat drei Jahre gebraucht."
Ansiedlungen schon heute beschleunigen
Wie aber kann man schon jetzt Ansiedlungen beschleunigen? Hier gibt es große Zustimmung für folgenden Vorschlag: Im Rheinischen Revier sollen besonders Net-Zero-Technologien angesiedelt werden, zum Beispiel rund um die Bereiche Wasserstoff, Batterie und Energiespeicher, Stromnetztechnologie, Windantrieb und Elektroantrieb, Dekarbonisierung. Viele dieser Technologien werden im Abstandserlass noch gar nicht erwähnt. "Wir könnten gemeinsam mit der unteren Immissionsschutzbehörde, Wirtschaftsförderern und Kommunen einen Vorschlag erarbeiten, wie solche Unternehmen im Sinne des Abstandserlasses zu betrachten sind. Wenn dann Anfragen kommen, haben die zuständigen Ämter mit dieser Liste schon eine gute Orientierungshilfe", sagt Silke Hauser, Bereichsleiterin Industrie, Klimaschutz und Mobilität der IHK Mittlerer Niederrhein. Um solch eine Liste zeitnah zu erarbeiten, wird derzeit geprüft, dass Arbeitsgruppen auf Kreisebene an jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten arbeiten, die dann in einem zweiten Schritt zusammengeführt werden.
Die Schwierigkeiten, die sich aus dem Erlass für die Praxis ergeben, erläutert Iris Tomczak-Pestel, Technische Dezernentin der Stadt Baesweiler: "Wenn ein Unternehmen bei uns anfragt, spielt die Zeit eine große Rolle. Es dauert aber häufig zu lange, bis alle Fragen mit den auch extern zu beteiligenden Fachbehörden geklärt sind – auch aufgrund unzureichender Informationen zum Betriebsablauf. Wir sollten aber schnell eine verbindliche Aussage treffen können. Denn ein Unternehmer will keine Fläche, von der er nicht sicher ist, dass er wenigstens zehn Jahre bleiben kann."
Ein bewährtes Instrument zur Beschleunigung seien Antragskonferenzen, erläuterte Thomas Schröder, Wirtschaftsförderer in Grevenbroich: "An einem Nachmittag klären wir gemeinsam mit der Firma und den zuständigen Behörden, welche Fragen offen sind. Wenn alle an einem Tisch sitzen, kommen wir viel schneller zu Ergebnissen. "
Leitfaden: Welche Infos müssen Firmen liefern?
Auch Birgit Kaul, in der Städteregion Aachen als Arbeitsgruppenleiterin zuständig für betrieblichen Umweltschutz und Genehmigungen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz, betont, dass ein kurzer Draht zwischen Wirtschaftsförderung, Immissionsschutz und unterer Bauaufsicht nötig sei. Gleichzeitig sei es aber auch wichtig, dass die Firmen ihre Hausaufgaben machten: "Ich brauche Daten, was die Firmen auf dem Gelände vorhaben und was gegebenenfalls produziert werden soll. Die Firmen, die sich ansiedeln wollen, müssen offen dafür sein, solche Informationen schnell und vollständig zur Verfügung zu stellen."
Thomas Terstappen, bei der Bezirksregierung Köln Leiter der Abteilung Umwelt und Arbeitsschutz, verweist auf einen bestehenden Leitfaden zum Genehmigungs- und Anzeigeverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG): "Der Leitfaden zeigt, welche Informationen Unternehmen für Genehmigungsverfahren liefern müssen." Es soll nun geprüft werden, daraus eine kompakte Übersicht abzuleiten, damit Betriebe wissen, welche Angaben sie frühzeitig vorbereiten sollten.
Die Diskussion macht deutlich: Der Abstandserlass NRW ist für die einen eher ein Hindernis, für die anderen ein flexibles Werkzeug. Eine Modernisierung wäre hilfreich – doch bis dahin lässt sich durch Kooperation, Transparenz und gemeinsame Planung viel Zeit gewinnen. Die erwähnte Arbeitsgruppe will nun einen ersten Aufschlag für die Modernisierung erarbeiten.
